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01.10.2021

Städte der Zukunft: grün, kompakt, ein bisschen mittelalterlich

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Der Trend zur Urbanisierung ist dauerhaft und stetig. Das jahrtausendealte Konzept der Stadt erweist sich dabei als beständig und resilient. In Zeiten von Klimawandel, Digitalisierung und demografischem Wandel liefert es die Blaupause für die Entwicklung grüner Zukunftsstädte. Prof. Dr. Tobias Just, Inhaber des Lehrstuhls für Immobilienwirtschaft an der International Real Estate Business School (IREBS) der Universität Regensburg, erklärt in seinem Gastbeitrag, was Städte seit jeher für Menschen attraktiv macht und welche Faktoren unser zukünftiges Arbeiten, Einkaufen und Zusammenleben im urbanen Raum prägen werden.

Stadtentwicklung: Was macht Städte für Menschen attraktiv?

Die Geschichte der Menschheit ist seit Jahrtausenden mit der Geschichte von Städten eng verbunden. Wenige Entwicklungen sind so dauerhaft und stetig verlaufen wie der Urbanisierungstrend. Manchmal spricht man zwar von der heutigen Zeit als dem Zeitalter der Städte, doch der Urbanisierungsprozess begann viel früher. Genau genommen nahm er seinen Anfang während des Neolithikums, der Jungsteinzeit. In Uruk, der damals weltgrößten Stadt, lebten bereits vor 5.000 Jahren bis zu 80.000 Menschen, in Rom 3.000 Jahre später bereits eine Million.

Zahllose Städte blühten auf und gingen wieder unter: Selbst Uruk, Theben, Karthago oder Angkor, also die Metropolen ihrer jeweiligen Epoche, beschäftigen heute keine Händler oder Produzenten mehr, sondern nur noch ein paar hoch spezialisierte Archäologen. Doch jenseits dieser Aufstiege und Untergänge blieb nicht nur die Idee der Stadt lebendig, die meisten Städte überstanden viel heftigere Zäsuren als die aktuelle Corona-Pandemie: Kriege, Naturkatastrophen, ungezählte Epidemien und nicht zuletzt auch eklatantes Fehlmanagement. Wenn 2021 also wieder stärker nach den Elementen einer resilienten, also widerstandsfähigen Stadt gesucht wird, können wir vorab feststellen, dass das Konzept der Stadt selbst sehr resilient zu sein scheint. Dies liegt offenbar daran, dass die Vorteile einer Stadt ihre Nachteile dauerhaft überstrahlen. Was macht Städte für Menschen attraktiv?

Wir suchen nach den Elementen der resilienten Zukunftsstadt

Letztlich ging es in den vergangenen Jahrtausenden immer um einen Cocktail aus drei zentralen Zutaten: dem Angebot von Schutz, wirtschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten und soziokulturellen Annehmlichkeiten. Jede Zeit hatte ihr eigenes Mischungsverhältnis aus diesem Dreiklang: Anfangs mögen kultische Versammlungen, also das Gemeinschaftliche, überwogen haben, doch bald schon wurde der Schutzgedanke für die Menschen entscheidend. Aber wirklich prächtig konnten Städte erst dann werden, wenn es wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten gab und diese auf einem relativ offenen Bildungs- und Wissenschaftssystem fußten. Dass Städte gleichzeitig auf diesen drei Feldern Vorteile bieten können, liegt – stark vereinfachend – an zwei ökonomischen Gesetzmäßigkeiten.

Städte ermöglichen das Ausnutzen von Größenvorteilen und reduzieren die Transaktionskosten. Es ist viel kostengünstiger, 1.000 Menschen innerhalb einer Stadt zu schützen als in 300 stark verstreuten Gehöften. Es ist einfacher, Güter und Dienstleistungen auf einem zentralen Marktplatz zu tauschen als in verstreuten Häusern. Viele Bildungs- und Kulturangebote lohnen sich überhaupt erst ab einer Mindesteinwohnergröße – zum Beispiel eine Universität, ein Opernhaus oder ein Theater. Größere Städte ermöglichen Spezialisierungsvorteile auf Arbeits- und Dienstleistungsmärkten, Informationen lassen sich schneller verteilen, und jahrhundertelang war der Einkaufsbummel durch die Innenstadt die effizienteste Möglichkeit, sich mit Notwendigem und weniger Notwendigem zu versorgen. Kurzum, wir können das heute von vielen präferierte Güter- und Dienstleistungsbündel am kostengünstigsten in Städten produzieren und konsumieren.

Zwei Ergänzungen lohnen hierzu: Zum einen geht es bei diesen Gütern und Dienstleistungen nicht allein um private, also marktwirtschaftlich produzierbare Güter. Wir genießen durchaus auch die Vorteile öffentlicher Sicherheit, einer verlässlichen Gesundheitsversorgung und eines offenen und damit öffentlichen Bildungssystems. Zum anderen wohnen wir zwar in der Regel nur in einer Stadt, unser heutiges Leben wird aber bestimmt durch regelrechte Netzwerke aus Städten. Keine Stadt ist autark, und wir genießen es, andere Städte zu besuchen, um uns inspirieren zu lassen.

Die Städte verändern sich nicht durch, sondern mit Corona

Doch was ändert sich nun im Zuge der Pandemie? Aphoristisch ließe sich das so verkürzen: Die Städte verändern sich nicht durch, sondern mit Corona. Letztlich zwingt uns nicht die Pandemie, sondern die technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen, die bereits vor der Pandemie zu beobachten waren, zur Veränderung. Die Pandemie hat „nur“ den Veränderungsdruck und -willen erhöht, weil wir genötigt waren, Dinge auszuprobieren, die auch zuvor möglich waren: Online-Handel gibt es seit einem Vierteljahrhundert, Videokonferenzen ebenfalls. Der Begriff der „Telearbeit“ stammt aus den 1970er Jahren. Die Pandemie hat letztlich zu einem gewaltigen gesamtgesellschaftlichen Experiment geführt. Die dabei gesammelten Erfahrungen waren in vielerlei Hinsicht belastend, mitunter tragisch. Aber es gab eben auch zahlreiche positive Erfahrungen. Diese werden zu Pfadabhängigkeiten führen, welche unser zukünftiges Arbeiten, Einkaufen und Zusammenleben prägen werden. Und daraus lässt sich eine neue Mischung für den Bedürfnis-Dreiklang idealer Städte ableiten, für die nicht nur die Digitalisierung bestimmend sein wird, sondern auch die Tatsache, dass wir im reichsten Europa aller Zeiten leben, und die Grenzen, die unser Handeln durch den drohenden Klimawandel gesetzt bekommt. Dies möchte ich im Folgenden an je einem Beispiel innerhalb der drei Bedürfnisse erläutern:

Grüne Städte der Zukunft helfen, Energie einzusparen

Das Schutzbedürfnis ließ Menschen dicke Mauern und Wehranlagen um ihre Städte bauen, später sichere Verkehrs- und Versorgungsinfrastrukturen installieren sowie umfangreiche Arbeitsschutz- und Brandschutzrichtlinien verabschieden. In den nächsten Jahrzehnten werden Stadttopologien stärker danach auszurichten sein, ob die Maßnahmen helfen, Energie einzusparen. Dies betrifft Gebäude, Gebäudeensembles und Verkehrsleistungen.

Im Arbeitsleben ermöglichte die Industrialisierung gewaltige Größenvorteile in der Produktion, die gleichzeitig viele einfache Handgriffe an einer gemeinsamen Fertigungsstätte erforderte. Kontrolle und Überwachung waren notwendig, weil die Arbeit oft hart oder monoton oder beides zusammen war. Nun werden viele solcher Tätigkeiten durch Roboter ausgeführt und von Algorithmen gesteuert. Das rein Mechanische der Arbeit wurde zunächst durch qualifiziertere Tätigkeiten verdrängt, die sich durch individuelle Ausbildungen und Erfahrungen trainieren ließen. Weil sich heute viel mehr Menschen an der Entwicklung neuer Güter und Dienstleistungen beteiligen als jemals zuvor, wird die wirtschaftliche Entwicklung als unsicher wahrgenommen. Diese Unsicherheit erfordert schnelle und kreative Lösungen. Solche Lösungen werden in Teams effektiver gefunden als in der Studierstube. Letztlich sind es also diese verschobenen Anforderungen in der Arbeitswelt, die zur Erosion physischer Präsenznotwendigkeit führen. Gleichzeitig wuchs die Notwendigkeit, in gut funktionierenden Teams zusammenzuarbeiten. Im Industriezeitalter mussten Gebäude oft in erster Linie effiziente Arbeitsabläufe ermöglichen. Es ging um eine Optimierung, sodass die Dinge bei klarer Zielvorgabe richtig gemacht werden konnten.

Wie werden wir in der Stadt der Zukunft leben?

In Zukunft geht es um Gebäude, die hohe Effektivität ermöglichen, in denen bei eher unklarer Zielvorgabe die richtigen Dinge erkannt und vorangebracht werden können. Dies erfordert mehr Interaktivität innerhalb von Teams, mehr Inspiration, mehr Überraschung, kurz: mehr Raum für Kreativität. Übertragen auf den Einzelhandel bedeutet dies entsprechend, dass dieser von der Versorgungsleistung auf das Überraschende, das Inspirierende, das Zwischenmenschliche das Kreative geworfen wird, nicht überall, aber immer häufiger. Je besser dies gelingt, desto mehr werden die typischen Versorgungsprodukte aus Gründen der Einfachheit sozusagen als Beifang gekauft. Im Mittelalter kamen die Gaukler auf die Marktplätze, weil dort mögliche Zuschauer waren. Dies wird nun auf den Kopf gestellt; die Händler müssen dorthin, wo Gaukler und Possenreißer die Menschen anziehen.

Lebenswerte Städte mit Wow-Effekt

Und dies führt uns direkt zur letzten Zutat im Bedürfnis-Cocktail: zum Gemeinschaftlichen. Offensichtlich zieht es viele, vor allem junge Menschen, in die Kernstädte. Die Nachteile der Dichte werden durch deren Vorteile überkompensiert. Damit dies so bleibt, brauchen Städte Platz für Ablenkung, für Überraschendes und soziale Interaktion. So wie Apple seinen Campus so gebaut hat, dass die Mitarbeiter möglichst lange auf diesem Campus gehalten werden, damit sie produktiv interagieren können, sollten wir Wohlfühlstädte vor Augen haben, die dieses kreative Miteinander ermöglichen. Wohlfühlstädte haben kurze Wege, lassen viel Platz für Begegnung und bieten hin und wieder Raum für ein „Wow“. Vieles von dem muss nicht neu gedacht werden – europäische Städte hatten über Jahrhunderte diese Eigenschaften. Aber vieles muss neu interpretiert und folglich umgebaut werden. Wenn dies gelingt, werden wir im 21. Jahrhundert zunehmend in grünen, kompakten und ein bisschen mittelalterlich wirkenden Städten leben. Es könnten die schönsten Städte werden, die es je gab.

Prof. Dr. Tobias Just

Prof. Dr. Tobias Just ist Inhaber des Lehrstuhls für Immobilienwirtschaft an der International Real Estate Business School (IREBS) der Universität Regensburg sowie Wissenschaftlicher Leiter und Geschäftsführer der IREBS Immobilienakademie. Er ist Fellow of The Royal Institution of Chartered Surveyors (FRICS), Präsident der Gesellschaft für Immobilienwirtschaftliche Forschung und Herausgeber der „Zeitschrift für Immobilienökonomie“ (ZIÖ).