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13.10.2021

Stadtentwicklung: Die Zukunft gehört Mixed-Use-Konzepten und urbanen Quartieren

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work & live

Klaus-Peter Hesse und Valentin Hadelich

Vielfältig, kompakt, nachhaltig: Die gemischt genutzte Stadt nach dem klassischen europäischen Vorbild erlebt eine wahre Renaissance. Klugen Mixed-Use-Konzepten gehört die Zukunft. In unserem Blog-Gespräch erörtern Klaus-Peter Hesse, Director City Development & Acquisition bei der ECE Work & Live, und Valentin Hadelich, Head of Department Creative Design - Urban Planning bei der ECE Group Services, was eine gute Mixed-Use-Immobilie auszeichnet, warum Resilienz für ein Quartier wichtig ist und welche versteckten Potenziale in unseren Städten schlummern.

Was ist Mixed Use?

Klaus-Peter Hesse: Mixed Use ist das Ergebnis eines stadtentwicklungspolitischen Prozesses. Städte sind schon immer Experimentierfelder gewesen und waren nur dann erfolgreich, wenn sie sich weg von Monostrukturen hin zu Erlebnisräumen entwickelt haben. Hierzu gehört auch, dass Nutzungskonkurrenzen analysiert und Nutzungsrechte gegebenenfalls neu vergeben werden. Öffentlicher Raum ist für alle da, und wo Veränderungen ausbleiben, gibt es Stillstand. Angesichts des starken Bevölkerungswachstums in den Städten galt lange die „Charta von Athen“ als beste städtebauliche Lösung. Sie sah eine Trennung von Wohnen und Arbeiten vor. Diese Idee ist inzwischen überholt. Das heutige Leitbild ist die „Charta von Leipzig“: die Stadt der kurzen Wege, die gemischte Stadt, die urbane Stadt, die nachhaltige Stadt. Diese Gedankenwelt hat dazu geführt, dass man in der Politik darüber nachgedacht hat, wie sich dieses Leitbild bauplanerisch abbilden lässt. So wurde das urbane Gebiet als weiterer Gebietstyp eingeführt. Das ging auch deshalb, weil die Autos und die Fabriken weniger Lärm und Schadstoffe emittieren. Das, was früher die Nutzungstrennung notwendig machte, ist heute nicht mehr so relevant und zudem technisch lösbar. Darüber hinaus sind die Menschen bereit, für Urbanität auch gewisse Beeinträchtigungen auf sich zu nehmen. Das alles führt dazu, dass wir komprimierter, urbaner und somit auch gemischter denken. So kommen wir zu Mixed-Use-Konzepten, die unterschiedlichste Nutzungen und unterschiedliche Angebote zusammenfassen.

Potsdamer Platz Berlin

Valentin Hadelich: Die europäische Stadt ist ja in der Regel gemischt genutzt. Zumindest jene Städte, die nicht im Zweiten Weltkrieg komplett zerstört wurden. In Deutschland allerdings haben wir nach dem Krieg, der Charta von Athen folgend, vielerorts Innenstädte monofunktional wiederaufgebaut. Dort ist der Wohnanteil stark geschrumpft und teilweise komplett von Gewerbenutzungen verdrängt worden. Wenn wir Frequenzen, also Menschen, in der Innenstadt und in alten wie neuen Quartieren haben wollen und gleichzeitig eine Verkehrsreduzierung anstreben, dann müssen die Menschen wieder dort wohnen, wo sie einkaufen und arbeiten. Auch deswegen ist Mixed Use bei uns ein relevantes Thema. Der Begriff Mixed Use kommt ursprünglich aus den USA. Die New Urbanists forderten dort schon vor 25 Jahren, dass die gemischt genutzte Stadt nach dem alten europäischen Vorbild wieder das Ziel sein müsse. Wenn die 15-Minuten-Stadt als neues Leitbild für mehr Lebensqualität und nachhaltige Stadtentwicklung ihre Anwendung finden soll, dann müssen wir auf Quartiersebene die nötigen Bausteine in der Planung berücksichtigen und umsetzen.

MesseCity Köln © Ingo Fischer

Wie viele und welche Nutzungen machen denn eine gute Mixed-Use-Immobilie aus?

Hadelich: Da gehen die Antworten weit auseinander. Stadtplaner oder Städtebauer sehen natürlich gerne möglichst viele Nutzungen in einem Haus. In der Regel geht es um aktive Erdgeschosse, die den Straßenraum beleben, um mehrere Nutzungen in den Obergeschossen, um öffentliche Einrichtungen etc. Die Perspektive ist die auf eine idealisierte Stadt. Meines Erachtens kann sie aber nicht auf die gesamte Stadt übertragen werden. Es muss auch Gebäude geben, in denen einfach nur gewohnt oder gearbeitet wird. Ein Investor hingegen blickt ganz anders auf so ein Thema. Er schaut aus der Perspektive des Exits, der Verwaltung und des Fonds oder des Vehikels, bei dem die Immobilie weiterverkauft werden soll. Natürlich gibt es mittlerweile auch Fonds, die sich speziell mit Mixed Use auseinandersetzen und auch gezielt nur Mixed-Use-Projekte kaufen. Diese sind aber in Deutschland derzeit noch nicht so groß. In Großbritannien oder in den USA ist das Thema schon deutlich weiter als bei uns. Bei Projektentwicklern und Family Offices, die ihre Objekte langfristig halten, verändert sich allerdings der Blick auf das Thema. Für den langfristigen Erfolg einer Immobilie ist das Umfeld entscheidend. Daher legen wir bei unseren Quartiersentwicklungen auch großen Wert auf die langfristigen Entwicklungsmöglichkeiten.

Hesse: Angesichts des durch Corona beschleunigten Transformationsprozesses wird in der Politik darüber nachgedacht, was man rechtlich tun kann, um Planung und Genehmigungsverfahren für Umnutzungen zu erleichtern und zu beschleunigen. Auch steht die Baunutzungsverordnung mal wieder auf dem Prüfstand, die vorgibt, wie Art und Maß der baulichen Nutzung umgesetzt werden. Zudem gibt es Ideen, zur Stärkung und zum Umbau der Innenstädte einen neuen Gebietstyp Innenstadt einzuführen. Alle wollen mehr Wohnen in den Städten und Quartieren. Ein erster wichtiger Schritt wäre hierfür, endlich die Technische Anleitung (TA) Lärm anzufassen und mehr Urbanität zuzulassen. Stadtreparatur und -umbau sowie benötigte neue Nutzungsformen sind mit dem bestehenden Werkzeugkasten nur bedingt zeitgerecht hinzubekommen.

Ist ein Mixed-Use-Gebäude schon ein Quartier?

Hadelich: Ein Quartier ist eigentlich immer ein größerer Zusammenhang. Wie groß der sein muss, da kann man sich streiten. Aber es sollte schon ein Bereich zusammenkommen, in dem auch der öffentliche Raum eine Rolle spielt, in dem Straßen, Plätze und Parks das räumliche Gerüst bilden, in dem sich die Gebäude entwickeln. Wo verschiedene Nutzungen zusammenkommen und nicht nur in einem Haus gestapelt sind, sondern eben auch nebeneinanderstehen. Wie gesagt ist es ja nicht so, dass alle Gebäude immer mehrere Nutzungen haben müssen, und dann entsteht automatisch eine gute Stadt. Der ehemalige Bundesbauminister Klaus Töpfer hat es mal sinngemäß so formuliert: „Ein gutes Gebäude in einem schlechten Quartier ist nichts wert. Ein schlechtes Gebäude in einem guten Quartier kann hingegen sehr gut funktionieren.“ Also: Das Quartier ist der ausschlaggebende Qualitätsmaßstab.

Welche Rolle spielt die Resilienz für das Quartier der Zukunft?

Hesse: Ich denke, das Thema Resilienz gehört immer zu einer Quartiersdiskussion dazu – nicht nur wegen Corona, sondern auch mit Blick auf den Klimaschutz. Wir müssen die jetzt entstandene Transformationsenergie nutzen, um auch alternative Formen von Mobilität, neue Wohn- und Arbeitskonzepte und eine neue Ausrichtung unserer Handelsimmobilien vorzunehmen. Die Überschwemmungen in der jüngsten Vergangenheit haben gezeigt, wie verletzlich unsere Städte sind. Wir werden daher auch vermehrt über mehr Grün in der Stadt sprechen müssen und auch über Wasserspeicherung und -nutzung auf Plätzen mit hoher Aufenthaltsqualität und Multifunktionalität. Und wir werden über attraktive öffentliche Räume und deren aktivere Nutzung in einem Quartier sprechen müssen, wie auch immer die Plätze dann gestaltet sein werden und aussehen müssen. Aber den öffentlichen Raum noch intensiver zu nutzen, wird in Zukunft für ein funktionierendes Quartier und für Lebensqualität eine ganz entscheidende Rolle spielen. Beim weiterhin für die Quartiere wichtigen klassischen Einzelhandel brauchen wir innovative Konzepte und mehr Transparenz in den öffentlichen Raum.

Potsdamer Platz Berlin

Mitte Altona

Milaneo Stuttgart

Nachhaltige Mobilität

Welche weiteren Vorteile bieten Quartiere mit Blick auf Nachhaltigkeit und ESG?

Hadelich: Theoretisch bietet das Quartier enorme Vorteile, die wir nutzen könnten, wenn wir einen integrativen Entwurf machen würden. Allerdings stößt man schnell auf die bekannten und teilweise schon genannten Hürden, die oft auch noch genehmigungsrechtlicher Natur sind. Sobald Abhängigkeiten entstehen zu anderen Gebäuden, zum Beispiel in der Versorgung, in der Energieproduktion etc., wirkt sich das nicht positiv auf den Wert aus. Trotzdem glaube ich, dass die Quartiersform die einzige nachhaltige Art ist, Stadt zu entwickeln oder Gebäude zu bauen. Denn nur das Quartier bietet die Chance, durch kurze Wege Verkehr zu vermeiden und langfristig eine resiliente Stadt zu bauen. Ich bin überzeugt: Das ist eigentlich der Begriff, der deutlich wertvoller ist als das Thema Nachhaltigkeit. Wenn man über Resilienz nachdenkt, dann geht es um die Fähigkeit eines Quartiers, in der Zukunft weiterzubestehen. Aber eben nicht unbedingt in der Form, wie wir es jetzt kennen, sondern in irgendeiner Form. Es soll sich ja entwickeln und verändern können. Aber eben weiter existieren und wertvoll bleiben. Der Begriff kommt aus der Forstwirtschaft: Der Wald kann sich schon verändern. Er soll aber ein Wald bleiben, er darf nicht sterben. Und wenn man das mit dem Quartier schafft, dann ist man nachhaltiger als alles, was ein einzelnes Gebäude leisten kann. Weil man dann ein Quartier baut, das potenziell in den nächsten 300 Jahren auch noch dasteht. Und nachhaltiger kannst du nicht denken.

Hesse: Die nachhaltigsten Gebäude im bestehenden Quartier sind jene, die nicht gebaut werden. Wir sollten es daher als vordringlichste Aufgabe ansehen, Bestände zu nutzen, Ressourcen zu schonen und den Lebenszyklus der Gebäude stärker im Blick zu behalten. Deswegen muss in Zukunft auch nicht immer gleich die Abrissbirne geholt werden. Hier spielt übrigens das Stichwort graue Energie eine immer größere Rolle. Deswegen darf auch nicht allein das Mixed-Use-Gebäude betrachtet werden, sondern vielmehr muss es im Quartiersbezug untersucht werden. Im Gebäudeenergiegesetz gibt es hierfür erste Ansätze. In einem Quartiersbezug gibt es noch ganz viele weitere Möglichkeiten, wie man klima- und energiepolitisch zu einem effizienteren Umgang mit Energie kommen kann. Entscheidend für das Gelingen wird sein, dass wir ein aktives Quartiersmanagement bekommen und der Staat seine gesetzlichen Beschränkungen und Vorgaben lockert.

Mitte Altona

Hadelich: Und wenn man im Quartier denkt, dann kann man natürlich auch über dezentrale Energiespeicher nachdenken. Da gibt es spannende Konzepte – etwa das Thema E-Mobility: Wie fängt man die Erzeugungs-Peaks auf, und wie deckt man die Lows ab? Stichwort: Vernetzung der Systeme. Es gibt viele gute Ansätze, die alle gerade in der Entwicklung sind und die immer darauf zurückkommen, dass man in größerem Maßstab denken muss. Immer wenn du nur das einzelne Gebäude betrachtest, hast du schon ein Defizit, weil du den ganzen Wert, den du aus einem Quartier herausziehen könntest, nicht schöpfen kannst.

Hesse: Ich möchte noch zwei weitere Themen ansprechen, die für ein funktionierendes Quartier und für Urbanität wichtig sind. Quartiere gewinnen erheblich an Lebensqualität, wenn sie bezüglich ihrer sozialen Struktur nicht nur monostrukturell ausgerichtet sind. Wenn beispielsweise nur Luxuswohnungen für Eigentümer angeboten werden, die sich kaum vor Ort aufhalten, dann hat das Quartier ein Problem. Das heißt: Du brauchst eine gesunde Mischung aller Bevölkerungsschichten, damit ein Quartier funktioniert. Wir haben deshalb als ECE sehr frühzeitig den sogenannten Drittelmix umgesetzt und uns bei der Mitte Altona in Hamburg freiwillig verpflichtet, einen bestimmten Anteil von öffentlich geförderten Wohnungen zu realisieren. Außerdem haben wir in der Mitte Altona auch ein Mobilitätskonzept angeboten, das weit mehr ist als nur Autos in Tiefgaragen oder Quartiersgaragen. Das heißt: Wir haben uns schon sehr frühzeitig mit der Funktionalität eines Quartiers beschäftigt. Und dazu gehören gemischte soziale Strukturen und ein kluges Mobilitätskonzept, das nicht mehr Mobilität von gestern denkt, sondern Mobilität von morgen.

Wohnen am Stern-Center in Potsdam

Wohnen am Stern-Center in Potsdam: Könnte das auch ein Beispiel für ein gemischt genutztes Quartier werden?

Hadelich: Die Häuser selbst sind nicht im traditionellen Sinn gemischt genutzt. Das sind reine Wohngebäude mit Gemeinschaftsflächen für die Bewohner – sogenannte Amenities mit Fitnessstudio, Coworking und Lounge. Das sind keine öffentlichen Nutzungen. Mit dem Projekt tragen wir aber insgesamt zu einem gemischt genutzten Quartier bei. Neben dem bereits vorhandenen Shopping-Center und dem schon bestehenden Wohnkontext kommt mit unserem Projekt in Zukunft noch ein neuer Baustein hinzu, der aber eine andere Zielgruppe anspricht, um eine soziale Mischung des Quartiers hineinzubringen. Das heißt: Wir tragen auf verschiedene Art und Weise zu einem gemischt genutzten Quartier bei, auch wenn das Projekt selbst monofunktional ist.

Welche Potenziale für die Stadtentwicklung bieten Mixed Use und gemischt genutzte Quartiere noch?

Hesse: Unsere Städte mit ihren eigenen Identitäten und ihren eigenen Geschichten haben in Deutschland durch die polyzentrische Struktur große Potentiale im Transformationsprozess. Insbesondere muss zukünftig auch das Thema innerstädtische Gewerbegebiete und Industrieareale angesprochen und neu bewertet werden. Diese bieten sich aufgrund ihrer aktuell monofunktionalen Ausrichtung geradezu an, zu einem urbanen Quartier weiterentwickelt zu werden. Das ist dann Mixed Use, das ist Urbanität, das sind Quartiere. Da schlummern noch immense Potenziale für die Städte – genauso wie für Projektentwickler und Investoren.

ECE Redaktionsteam

Unser Redaktionsteam berichtet über Wissenswertes in und aus der ECE und liefert über die Unternehmenskanäle aktuelle Informationen rund um unsere Immobilienprojekte. Darüber hinaus befassen wir uns intensiv mit Trends und Entwicklungen aus den Bereichen Marketplaces und Work & Live. In unserem Blog geben wir unseren Experten eine Stimme und liefern interessante Einblicke in Themen, die uns bewegen.